Kleine Sektflaschen Hochzeit
Auffällig: Placebo lassen sich von dem Hype, Songs in nicht mal drei Minuten Länge zu produzieren, nicht mal in Ansätzen beeindrucken und liefern stattdessen 13 Nummern, wovon gleich fünf die Fünfminutenmarke crashen. Das ist absolut der richtige Weg, denn das Allerbeste an "Never Let Me Go" ist seine Homogenität. Wo Placebo drauf steht, ist Placebo drin, dafür braucht es nur wenige Augenblicke, um es zu erkennen. Der Sound, der seit über 25 Jahren fruchtet, wird zu gut 80 Prozent übernommen. Die übrigen 20 Prozent reichen, um ein bisschen zu experimentieren. Düstere Zeiten vor der Tür, düstere Zeiten ebenso aus den Boxen. Übersprudelnde Freude gab es zwar eh eher gut dosiert bei den Jungs, die Dosierung ist aber dieses Mal wirklich mehr eine Prise. "Never Let Me Go" hat dunkle Töne, erdrückt auch hin und wieder, macht aber gleichzeitig auch heimelig und friedvoll. Mit Sicherheit klingen viele Titel wie dieser oder jener Song aus dem Repertoire, aber hat man eben einen so schicken eigenen Stil mit einer so einzigartigen Stimme am Mic, ist Veränderung auch gar nicht groß gewünscht.
Wie viel gute Musik uns verwehrt und wie viel schlechte uns dadurch erspart wurde, bleibt wohl eine der vielen offenen Fragen dieser Zeit, die niemals abschließend beantwortet werden können. "Never Let Me Go" aber erscheint. Wenn auch nahezu zwei Jahre später als ursprünglich anvisiert. Die Band nutzte die Zeit, um nachzujustieren. Nach dem faden "Loud Like Love" war das wohl nötig. "Never Let Me Go" nämlich ist nicht so verkrampft und deshalb um ein vielfaches besser. Auf bewährte Pop-Muster setzt die Band wenig. Das teilt es sich mit den ganz alten Placebo-Alben aus den 1990ern. Viele der Songs überschreiten daher eine Länge von fünf Minuten. Auch auf Radio-taugliches Material verzichtet die Band, dem Zeitgeist biedert sie sich an keiner Stelle an. Es gibt demnach keine Trap-808s und auch kein Autotune. Dafür dichte Gitarrenwände, weiträumige Synthesizer-Läufe, ekstatische Ausbrüche, herausragende Momente. "Surrounded By Spies" beispielsweise ist einer dieser besonderen Songs, er wurde im Vorfeld auch bereits ausgekoppelt.
Molko variiert, wiederholt, rhythmisiert dort die immer-selben Zeilen, das Schlagzeug türmt sich währenddessen auf, das Klavier klimpert bedächtig im Hintergrund. Intensiv und laut wird das. Im ähnlich lautstarken Moment von "Sad White Reggae" stehen Bläser-Sätze anstelle des Klaviers. Es finden sich mehr solcher herausstechender Momente auf diesem Album: Spoken-Word-Einsätze ("Went Missing"), eine schwermütige Ballade ("This Is What You Wanted"), ein Stück, das sich gänzlich um ein Streicher-Arrangement schmiegt ("The Prodigal"), Industrial-Spielchen ("Forever Chemicals"), New-Wave ("Fix Yourself"). Und natürlich gibt es auch einige Songs, die sich vor zwei Dekaden zum Hit gemausert hätten. "Beautiful James" ist ein solcher, "Try Better Next Time" ein anderer. Auch was seine Texte angeht hat Molko neue Schlagfertigkeit und Dringlichkeit gefunden. Ohne ins parolische abzudriften, geht es vielfach um die ganz großen Fragen des Daseins: Klimakatastrophe hier, psychische Probleme da, technische Megaüberwachung dort.